Dr. Herbert Renz-Polster
Was Babys und Eltern gut tut
Referat am FrauenGesundheitsZentrum Frankfurt am 22.4.2010
Originaltext hier
Was Eltern gut tut, tut auch den Kindern gut, und umgekehrt – oder etwas nicht? Historiker und Verhaltensforscher haben daran gut begründete Zweifel.
Die Sicht der Historiker
Analysiert man die Erziehungsstile der letzten Generationen, so fällt eines auf: Jede Generation folgt in der Erziehung einem jeweils eigenen „Kinderbild“ – was Eltern stolz und zufrieden macht, was sie als Erzieher bestätigt und motiviert sind jeweils sehr unterschiedliche Dinge. Das zeigt aktuell eine Auswertung von Elterntagebüchern aus drei Generationen durch die Kulturhistorikerin Miriam Gebhardt („Die Angst vor dem kindlichen Tyrannen“). Demnach entwickeln Eltern mit jeder Generation auch neue Vorstellungen davon, was sie unter einem „guten“ Kind verstehen und welche „Werte“ sie sich für ihr Kind wünschen: Unsere Urgroßeltern wünschten sich ein gehorsames, angepasstes und „wohlerzogenes“ Kind, bei unseren Großeltern stand die Selbstkontrolle, frühe Sauberkeit und Disziplin stark im Vordergrund, erst in den späteren 1960er Jahren wandelten sich die Erziehungsideale langsam hin zu einem selbstständigen, „sozialen“ und „individuellen“ Kind...
Dies spiegelt sich in den Umgangsweisen mit dem Kind wider: so prägte bis in die 1970er Jahre körperliche Distanz und „Regelmäßigkeit“, aber auch Gewalt die Erziehung von Säuglingen und kleinen Kindern. Körperliche und seelische Unterdrückung waren allgemein anerkannte Erziehungsmittel, sie wurden vom erzieherischen Mainstream nicht als „unmoralisch“ oder verwerflich angesehen.
Im Vortrag wird die Frage aufgeworfen, wie viel von dieser „gewaltsamen“ Einstellung sich bis heute
im Bereich der frühkindlichen Erziehung gehalten hat, wo gerade seelische Gewalt noch immer kaum thematisiert wird.
Die historische Sicht zeigt also eines: Das Bild, nach dem Erziehung aus einem ewigen Schatz an immer gleichen Werten schöpft, stimmt nicht. Was Eltern für „gut“ halten ist kein unwandelbarer Bestand an Werten und Überzeugungen, sondern wird immer wieder neu definiert und kulturell bzw. sozial „konstruiert“. Dabei spielen immer auch die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen und insbesondere die sich ändernden Anforderungen auf dem Arbeitsmarkt (und damit zusammenhängend auch das Bild von der Frau!) eine wichtige Rolle – unser „Kinderbild“ ist untrennbar mit unserem „Menschenbild“, und dieses wieder untrennbar mit unseren Lebens- und Arbeitsbedingungen verbunden!
Zusammenfassung:
Ob ausgesprochen oder nicht: Eltern haben eine Wunschliste von Eigenschaften, die ihre Kinder zu „guten“ Kindern qualifizieren. Diese Liste ändert sich mit den Zeiten und den Anforderungen der Arbeitswelt, und sie spiegelt immer auch unser „Kinderbild“ bzw. Menschenbild wieder. Heute steht auf dieser Liste (zumindest bei den gesellschaftlichen Eliten) „soziales“ Verhalten, Empathie und „Selbstbewusstsein“ ganz weit oben. Das „gute Kind“ von heute ist nicht mehr das brave, gehorsame, „wohlerzogene“ Kind unserer (Ur)Großeltern, sondern ein sozial kompetentes, mitfühlendes und vor allem: selbstständiges Kind.
Die Sicht der Verhaltensforschung