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Krabbelgruppe in Chemnitz - Wissenswertes über Kinder, Erziehung und all die "Familienthemen" - Nettigkeiten - Neuigkeiten - Termine

Seit 2008 leite und konzipiere ich von mir gegründete Eltern-Kind-Gruppen. Die gemeinsam mit den Eltern initiierten Diskussionspunkte finden neben anderen mir wichtigen pädagogischen Themen in diesem Web- Blog den nachhaltigen Zugang zu weiteren interessierten Familien.

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Dienstag, 30. November 2010

Wie Kinder selbstständig werden - die Sicht der Verhaltensforschung

Von Dr. Herbert Renz-Polster

Eltern blicken in die Zukunft. Sie wollen schließlich ihren Kindern einen Weg weisen.
Dabei vergessen sie leicht die Vergangenheit. Kinder treten aber mit einer Geschichte
ins Leben – mit einer von der Evolution geschriebenen Geschichte.

 
Wenn wir diese Geschichte kennen, können wir unsere Kinder besser verstehen. Dies soll am
Beispiel des Themas „Selbstständigkeit“ ausgeführt werden - ein für heutige Eltern in der Erziehung
weit im Vordergrund stehendes Thema.
 
Erziehung: freie Wahl?
 
Erziehung wird oft als Folge rationaler individueller Entscheidungen gesehen. Eltern, so die vorherrschende Meinung, könnten sich den „besten“ Erziehungsstil gleichsam aus Ratgebern zusammensuchen.
Kulturvergleichende, evolutionsbiologische und verhaltensökologische Betrachtungen legen jedoch eine andere Sicht auf Erziehung nahe. Demnach handelt es sich bei Erziehung um einen Systemprozess, bei dem biologische, kulturelle, psychologische, und biografische Faktoren zusammenwirken. Nach dieser Sichtweise entscheiden Eltern über Erziehung nicht in einem freien Raum, sondern nach Maßgabe ihrer kulturellen und familiären Prägung, ihrer erlernten persönlichen Kompetenzen, ihrer psychischen Verfasstheit, ihrer sozialen Möglichkeiten sowie der Persönlichkeitsmerkmale des zu erziehenden Kindes.
Wie stark in diesem Zusammenspiel soziale und kulturelle Einflüsse sind, zeigt der Vergleich verschiedener
Kulturen. Je nach Art der sozialen Organisation der jeweiligen Gesellschaft können hier grob zwei Erziehungsziele unterschieden werden: In den individualistischen Gesellschaften des Westens wird vor allem die frühe Selbstständigkeit als Erziehungsziel angestrebt.
Die Kinder sollen möglichst frühzeitig lernen, sich selbsttätig - also unabhängig von Erwachsenen - 
zu regulieren, alleine einzuschlafen und sich selbst zu trösten.
In den eher auf kleinräumigen sozialen Zusammenhalt ausgerichteten traditionellen Kulturen dominiert dagegen das Erziehungsideal der sozialen Integration. Die Kinder sollen lernen, in der Gruppe klar zu kommen und die ihnen zugedachten Rollen in der Gemeinschaft zu übernehmen.
Interessant an der in den Industriegesellschaften geltenden Erziehungshaltung ist vor allem, dass sie auf Entwicklungsstadien gerichtet ist, in denen Kinder in vielen traditionellen Kulturen als noch gar nicht „erziehbar“ angesehen werden.
Erziehung zur Selbstständigkeit gilt gerade in den angelsächsischen Ländern, zunehmend aber auch in anderen Teilen des Westens als ein frühpädagogisches Projekt. (Woher diese Setzung von Erziehung als frühpädagogische, primär an Säuglinge gerichtete Intervention rührt, ist ein eigenes Thema - sicherlich hat hier die psychologische Denkschule des Behaviorismus eine Rolle gespielt, dessen Erklärung von Verhalten
als direktes Resultat aus Belohnung oder Bestrafung eine möglichst frühe Intervention nahe legt).
Dies bringt uns zu einer für die heutige „Erziehungsdebatte“ äußerst wichtigen Frage: Wird Selbstständigkeit wirklich in der Wiege erlernt?
 
Liegt der Schlüssel in der Wiege?
 
Aus Sicht der Evolutionsbiologie und der Verhaltensforschung sprechen wichtige Argumente dagegen.- 
Zum einen gehörte die verlässliche körperliche und emotionale Nähe unter den ursprünglichen Lebensbedingungen der Mensch- heit zu den nicht verhandelbaren Startbedingungen eines jeden kleinen Kindes – die Nähe der Eltern und ihre unmittelbare Zuwendung war für Säuglinge das Ticket zum Überleben.
Dass kleine Kinder viel getragen wurden, dass sie häufig, nach Bedarf und lange gestillt wurden, dass sie nachts bei ihrer Mutter schliefen – all das war Teil des unter arttypischen Lebensbedingungen normalen Lebensprogramms. Es ist evolutionsbiologisch nicht anzunehmen, dass solche adaptiven, d.h. dem Überleben und der gesunden Entwicklung dienenden Verhaltensweisen Kinder auf dem Weg zu einem selbstständigen Leben behindern sollten.
Schließlich war Selbstständigkeit unter den harten Bedingungen der Vergangenheit kein Luxus, sondern ein enorm wichtiges Sozialisationsziel. Auch kulturvergleichende Beobachtungen sprechen gegen die Annahme, dass Säuglinge durch eine frühe Entwöhnung von elterlicher Nähe selbstständig würden. So zeigt die Forschung, dass Kinder im Westen trotz ihrer »Selbstständigkeitserziehung « durchschnittlich erst weitaus
später in der Lage sind, sich von ihren Müttern zu trennen, als Kinder in traditionellen Gesellschaften.
So haben malayische Kinder im Schnitt mit 21 Monaten kein Problem mehr, sich von ihren Müttern zu trennen, deutsche Kinder brauchen dazu durchschnittlich 36 Monate. Wenn Kinder bei uns in die Schule kommen, gehen Kinder in vielen Jäger- und Sammlergesellschaften in der Kindergruppe ohne Erwachsenenaufsicht auf Kleintierjagd, besuchen andere Familien und bleiben dort auch oft über Nacht. Mädchen und Jungen in Jäger- und Sammlergesellschaften verbringen mit zwei bis vier Jahren mehr als die
Hälfte des Tages mit anderen Kindern, fern von ihren Müttern.
Auch zeigte sich in einem klassischen direkten Vergleich zwischen den Kindern der als Jäger und Sammler lebenden Kung aus der Kalahari und Londoner Kindern, dass die Kinder der Kung – die jahrelang gestillt und von der Mutter getragen werden – mit fünf Jahren sozial kompetenter und unabhängiger waren. - Die frühe,
sehr intensive und verlässliche Zuwendung scheint also per se NICHT als Behinderung auf dem Weg zur Selbstständigkeit zu wirken.
 
Wie aber werden Kinder selbstständig?
 Vielleicht hilft auch bei dieser Frage die Sicht auf die evolutionären Entwicklungsbedingungen. Denn genau so die die Erfahrung verlässlicher Nähe für das gestillte Kind zu den unverhandelbaren Schutzbedingungen unter den Lebensbedingungen der Frühgeschichte gehörte, so gehörte auch der Übergang in ein reichhaltiges soziales Netz mit mehreren Bindungspersonen zu den „vorgesehenen“ Lebenserfahrungen des älteren Kleinkindes. Denn mit der Geburt des nächsten Kindes stand unausweichlich ein entscheidender Rollenwechsel an: die vorher exquisite Nähe zur primären Pflegeperson wurde zu einem großen Teil fragmentiert und auf andere Erwachsene und ältere Kinder übertragen. Mit der Geburt des nächsten Geschwisterkindes wurden die Kleinen sozusagen automatisch in einen neuen sozialen Rahmen gestellt.
Tatsächlich dünnt sich auch in den heutigen traditionellen Gesellschaften das am Anfang sehr dicke Seil zwischen Mutter und Kind im späteren Kleinkindalter oft weitaus stärker als das in den westlichen Gesellschaften aus. Hierbei scheint der gemischtaltrigen Kindergruppe eine zentrale Rolle zuzukommen, in der Kinder oft ohne direkte Aufsicht durch Erwachsene einen großen Teil des Tages verbringen. Diese reichhaltige Sozialisationsinstanz scheint mit dafür zu sorgen, dass Kinder sich mit der Loslösung von der primären Pflegeperson »neu erfinden« und in ständig wandelnden Rollen soziale Kompetenz erwerben.

Selbstständigkeit - ein „sozialer“ Weg

Aus evolutionärer Sicht scheint damit der Schlüssel zur Selbstständigkeit NICHT in der Wiege verborgen zu sein. Selbstständigkeit scheint nicht einfach durch die Eltern anerzogen werden zu können, sondern scheint das Resultat einer sozialen Dynamik zu sein. Damit weist der Blick auf die evolutionären Sozialisationsbedingungen
auch über das im Westen vorherrschende »individualistische Erziehungsmodell« hinaus, nach dem Kinder eins zu eins von ihren Eltern erzogen und „gebildet“ werden: Warum Kinder es heute mit Selbstständigkeit und sozialer Kompetenz so schwer haben (Stichwort kleine Tyrannen) dürfte eher am Ausbleiben der in den arttypischen Lebensweg eingebauten sozialen Anpasssungserfahrungen in der Gruppe liegen. Dabei dürfte dem „sozialen Quirl“ der gemischtaltrigen Kindergruppe sowie dem weitaus reichhaltigeren Bindungssystem in eng aufeinander bezogenen sozialen Gruppen eine wichtige Rolle zukommen.
Schauen wir uns das einmal genauer an. Tatsächlich sind Kinder unter den heutigen Lebensbedingungen
weitaus stärker von sozialen Anpassungserfahrungen abgeschottet als Kinder in ursprünglichen Gemeinschaften: Erziehung findet heute oft in fast exklusiven Zweierbeziehungen statt, die die ganze Kindheit über relativ stabil bleiben. Während Kinder in traditionellen Gesellschaften häufig in einem Kreis von mehreren erwachsenen Bindungspersonen aufwachsen, deren Bedeutung spätestens mit dem Übergang in die Kindergruppe in der mittleren Kindheit automatisch zurückgeht, sind Kinder in den heutigen Kernfamilien oft sozial relativ isoliert und bis ins Jugendalter stark auf eine primäre Bezugsperson ausgerichtet (selbst in Patchwork-Familien bleibt es für die Kinder oft bei einer relativ exklusiven Zweierbeziehung). Das Dilemma ist offensichtlich: Kinder erfahren ihre Bindung immer stärker aus einer Hand, gebündelt in einer einzigen Person – von der sie gleichzeitig immer früher unabhängig werden sollen. Während Kinder früher Grenzen vor allem über andere Kinder in der Kindergruppe, ältere Geschwister und auch das „Dorf“ als Ganzes erfuhren,
sind es heute vor allem die Eltern, die die soziale Entwicklung orchestrieren. Besonders das hauptsächlich erziehende Elternteil - meist die Mutter - ist damit in eine Rolle mit erheblichem Stresspotential gerückt: sie
ist gleichzeitig Liebende, Fordernde, Strafende und Tröstende - sozusagen Heilige und Hexe in Personalunion. Die Mutter setzt Grenzen – und tröstet das Kind über die dadurch erfahrene Frustration hinweg. Kein Wunder, dass in diesem »emotionalen Dampfdrucktopf« (Melvin Konner) nicht wenige Familien in der Mitte des Wegs stecken bleiben. Unter der Flagge der Unabhängigkeit schaffen sie unsichere, abhängige Kinder.
Und auch die heute ganz anderen Erfahrungen der Kinder untereinander sollte neu ins Auge gefasst werden. War früher die kaum beaufsichtigte Sozialisation in gemischtaltrigen Kindergruppen mit ihren reichhaltigen sozialen Nischen die Regel, kommen Kinder heute vor allem mit Altersgenossen in Kontakt, und machen
dadurch oft sehr einförmige soziale Erfahrungen - in gleichaltrigen Kindergruppen sind Rollen, Status und Freundschaften stark zementiert und wenig wandelbar. Zudem machen Kinder heute ihre sozialen Erfahrungen selten allein – und genug stehen sie unter direkter Beobachtung von Erwachsenen und bewegen sich in einem von Erwachsenen bis ins Detail strukturierten Umfeld, wie etwa dem Kindergarten. 

Fassen wir zusammen. Obwohl es für Millionen von Eltern das Erziehungsziel Nummer eins ist, scheinen es Kinder heute immer schwerer zu haben, selbstständig zu werden. Das liegt auch daran, dass der moderne, frühpädagogische Ansatz heutiger Eltern nicht entwicklungsgerecht ist: Kinder werden nicht selbstständig, indem ihnen als Säuglinge Zuwendung und Nähe rationiert werden. Der Weg zur Selbstständigkeit führt vielmehr über die Erfahrungen des älteren Kleinkindes in der Gemeinschaft.

Dieser Artikel ist eine Zusammenfassung von Überlegungen aus dem Buch „Kinder verstehen.
Born to be wild: wie die Evolution unsere Kinder prägt“ (Kösel Verlag, 2009). Weitere Diskussionen
zur frühkindlichen Entwicklung und dem Umgang mit kleinen Kindern sind dort in der Tiefe besprochen. 
Mehr auch unter www.kinder-verstehen.de

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